Der 9. November wird gern als der “Schicksalstag der Deutschen”, ein monadisches Datum, bezeichnet, an dem sich zahlreiche Wendepunkte als Höhe- wie Tiefpunkte der deutschen Geschichte
kreuzen. Beginnend im Jahr 1848 mit dem Anfang vom Ende der Märzrevolution (Hinrichtung des republikanischen Abgeordneten der Frankfurter Nationalsversammlung Robert Blum), über das Ende des zweiten Deutschen Reiches 1918, den euphemistisch als “Reichskristallnacht” bezeichneten Pogrom gegen jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und Menschen jüdischen Glaubens im Jahr 1938, bis hin zum Fall der Mauer im Jahr 1989, der das Ende der DDR und die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten einläutete.
Genau dieser Gefahr wirkt ein ambitioniertes Microblogging-Projekt entgegen, dass sich zum 75. Jahrestag dieses “dunkelsten aller 9. November” zwischen 1918 und 1989 befasst: der Reichspogromnacht von 1938, die der Höhepunkt gewalttätiger Ausschreitungen gegen Juden zwischen dem 7. und dem
13. November 1938 war.
Unter dem Accountnamen @9nov38 vollziehen auf Twitter die Historikerinnen und Historiker Charlotte Jahnz, Petra Tabarelli, Christian Gieseke, Michael Schmalenstroer und Moritz Hoffmann bereits seit Donnerstag die Ereignisse jener ersten deutschlandweit ausgeführten und organisierten Gewaltnacht
tages- und uhrzeitgenau nach. Die Texte aller Tweets sind wissenschaftlich fundiert, sie erzählen reale Ereignisse nach, die tatsächlichen Personen zugestoßen ungefähr zu diesem Zeitpunkt zugestoßen sind.
Trotz des bei maximal 140 Zeichen pro Tweet begrenzten Raumes macht dieses Projekt die Dynamik der Ereignisse anschaulich. Von der propagandistischen Instrumentalisierung des Attentats des in Paris lebenden polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath am 7. November, dem dieser am 9. November erlag, über die gezielte Hetze und organisierte Anstachelung zur Gewalt, bis hin zur Einbindung und willentlichen Teilnahme der Akteure.
@9nov38 wird klarmachen, dass der Pogrom keine Naturkatastrophe gewesen ist, der die deutsche Bevölkerung hilflos gegenüberstand, sondern dass es auf allen Ebenen Mitwirkung gegeben hat. Auch die andere Seite, die der Opfer, kann dadurch nicht länger als gesichtslose Masse betrachtet werden. So wird das ganze Ausmaß des Pogroms deutlich, der heute als signifikanter Schritt in Richtung der im Krieg umgesetzten Vernichtungspolitik bewertet wird. Gleichzeitig beweist es, dass soziale Medien genutzt werden können, um Geschichte zugleich wissenschaftlich fundiert und lebensnah zu vermitteln, so dass die Dimension der lokalen Teilhabe an den Gewalthandlungen besonders deutlich dargestellt werden kann.
Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht auch die eine oder andere Jury eines renommierten Preises hierauf aufmerksam würde; der geneigte Follower könnte übrigens ab 15. Januar auch hier dem Schicksal etwas nachhelfen 😉